Dressurviereck

Überraschung war nichts, das sich Alistair oft anmerken ließ. Umso größer war die Genugtuung, gemischt mit einem Hauch von Scham, für Sheela, als sie die Verblüffung in seinen Augen sah. War die Aussage zu dick aufgetragen gewesen? Nein, sie meinte ihre Worte. Wenn sie ihn nicht gerade unmöglich gefunden hatte, war er ein guter Freund gewesen. Ein Mensch, dem sie vielleicht irgendwann sogar hätte vertrauen können. Der Gedanke allein war vermutlich naiv gewesen. Traynor war ein Taktiker durch und durch. Aber trotzdem schlummerte irgendwo tief unter dem Eis ein gutes Herz.
Als habe er ihre Gedanken gespürt, ergriff er schließlich die ausgestreckte Hand. Ein Kribbeln lief über den Arm der Inderin, doch sie zwang sich, nicht auf die Hände zu schauen, sondern die Augen hinter der Sonnenbrille zu fixieren. Ihr Herz schlug schneller, doch sie fühlte, dass sie die Kontrolle über diese Situation hatte. Und das lag nicht nur daran, dass sie gerade auf den gegenüberliegenden Seiten von Fortunas Rad standen. Sie hatten sich beide verändert. Vielleicht sogar so sehr, dass aus diesem ziemlich irrsinnigen Gespräch so etwas wie eine gesunde Freundschaft werden konnte. Das erleichterte Sheela trotz ihres erstarkten Selbstbewusstseins. Es war eine Sache, in ein fremdes Land zu reisen, um dort eine Arbeit in einem riesigen Hospital anzutreten. Als eine Ärztin unter vielen, egal wie viel größer das Wissen um Krankheiten und wie viel höher ihre Kompetenz in Sachen Behandlungsmethoden war. In den anderen Kliniken war sie immer eine vom Team gewesen. Hier aber stand sie wegen ihrer Ein-Frau-Abteilung als Außenseiterin da, was noch durch ihre halbe Zugehörigkeit zum Hof verstärkt wurde. Und auch hier fand sie eine Gemeinschaft vor, die verschworen war. So viel konnte sie sich aus Holmes‘ Informationen zusammenreimen.
Dass sie nun darauf hoffen konnte, zumindest einen Schritt näher an die Hofgemeinschaft gekommen zu sein, hätte sie beinahe erleichtert aufatmen lassen.

Dann jedoch zeigte sich die Seite von Alistair, die sie zuverlässig in den Wahnsinn getrieben hatte. Es war eine eiskalte Retourkutsche, die ihren Blick kurz ebenso eisig werden ließ. Kurz erwog sie, ihm die Hand zu entziehen, ein wütendes ‚Vergiss es einfach‘ zu schnauben und zu gehen. Aber sie waren erwachsen, wie sie gesagt hatte. Daher straffte sie die Schultern, erwiderte den Blick und fand etwas in den Augen des blonden Mannes, das sie nicht erwartet hatte und kaum deuten konnte. Etwas Verletzliches lag in den Augen, ließ sie schlucken.
Vielleicht war es das, was sie dazu bewegte, in ihre Hosentasche zu greifen und eine kleine, silberne Münze herauszuziehen, zusammen mit einer Visitenkarte. Beides hielt sie ihm hin, sodass er es im Zweifelsfall ergreifen konnte. Dann ließ sie die Hand los.
„Zwei Jahre vollkommen clean und diese Psychologin arbeitet in Victoria City und ist auf Probleme wie meins spezialisiert“, erklärte sie neutral und ohne Triumph in der Stimme. Dass es wirklich notwendig gewesen war, sich einer anonymen Gruppe anzuschließen und psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen, war immer noch der Schandfleck ihres Lebens.

[Alistair]

Sheela wusste nicht, ob sie an diesem Tag für etwas so dankbar gewesen war, wie für Mayas Bellen. Es riss sie aus der Starre heraus, die sie ergriffen hatte, nachdem sie Alistair ihren triumphlosen Erfolg eingestanden hatte. Es war eine Sache gewesen, bei den Treffen über ihre Sucht zu sprechen oder bei diversen Psychologen Schritt für Schritt aufzuarbeiten, was sie dazu getrieben hatte, sich immer weiter puschen zu wollen. Während die Kugelschreiber unablässig Notizen gemacht hatten, hatte sie sich immer wieder mit ihrer Persönlichkeit konfrontiert gefunden, mit den Erwartungen, die sie an sich hatte, die ihr ihre Eltern präsentiert hatten und von denen sie geglaubt hatte, dass andere sie ebenfalls an sie stellen würden, obwohl das gar nicht der Fall war. Viele der Sitzungen hatten sie einem Abgrund nahe gebracht, von dem sie bisher nur erahnt hatte, dass er in ihr schlummerte. Und dann waren da die anderen Termine gewesen. Die, in denen ihr eine Karte gezeigt worden war, um dem Abgrund nicht zu nahe kommen zu müssen. Und die, in denen sie erkannt hatte, wie sie die Brücke schaffen konnte, um nicht in das Dunkel des Loches hereinfallen zu müssen. So sehr sie sich anfangs geschämt hatte, Hilfe in Anspruch nehmen zu müssen, umso glücklicher war sie inzwischen damit. Sie fühlte sich stark, ohne an der Überheblichkeit zu kranken, die viele Ärzte besaßen. Oder überhaupt viele Menschen.
Und doch hätte sie nicht erwartet, dass es so schwer werden würde, mit jemandem darüber zu reden, der ihr einst so viel bedeutet hatte und mit dem sie genau wegen dieser Geschichte gebrochen hatte. Die Stille, die sie und Alistair umgeben hatte, bis die schwarze Hündin auf sich aufmerksam gemacht hatte, zeugte davon nur zu gut.

Sheela nutzte die Ablenkung, um in die Hocke zu gehen und Maya durch das warme Fell zustreicheln. Zu Alistairs Feststellung nickte sie nur, genoss den wedelnden Schwanz der Hündin, bis sich diese zusammen mit ihrem Besitzer erhob. Es war beinahe so, als verbinde die beiden ein unsichtbares Band. Eine höchst bemerkenswerte Tatsache, die Sheela im Inneren wieder ein bisschen daran zweifeln ließ, dass der jüngere Traynor wirklich so kalt und rücksichtslos war, wie er sich gern zeigte.
„Ich lerne sie doch grade kennen“, lächelte die Dunkelhaarige, wobei sie merkte, dass die Beschäftigung mit dem Tier tatsächlich dazu geführt hatte, dass sie wieder in der Wirklichkeit angekommen war. Das war wahrscheinlich wirklich etwas, das nur Tiere bewirken konnten. „Wir könnten einen der Essensstände aufsuchen, es sei denn, du möchtest dich beim Ponyreiten beweisen?“ Ein herausforderndes Lächeln schlich sich auf ihre Lippen, doch der Tonfall war scherzhaft genug, dass es Alistair nicht direkt als Provokation verstehen würde. Sie erinnerte sich vage daran, dass er die Pferdebegeisterung seines Bruders nie ganz verstanden hatte und dass sie sich immer gewundert hatte, ob nicht noch mehr dahinter steckte, als brüderliches Unverständnis. Sie selbst hatte ihm über ihre Narbe nur berichtet, dass es ein Sportunfall gewesen war.
„Ich habe heute seit langem mal frei“, fügte sie hinzu, erhob sich ebenfalls und schlenderte auf den Ausgang zu. „Nächste Woche beginne ich mit kurzen Sprechstunden hier auf dem Hof, sonst gehört meine Zeit noch dem Krankenhaus. Du kannst dir kaum vorstellen, wie hektisch es ist und wie schwer, die anderen Ärzte davon zu überzeugen, dass sie sich mit Problemen an mich wenden können.“ Ein kleines Augenrollen folgte, obwohl ihr die Ironie der Worte durchaus bewusst war. War sie nicht selbst arrogant, weil sie glaubte, es besser zu können? Der Grat zwischen Arroganz und Selbstbewusstsein war jedenfalls unglaublich schmal.

[Alistair / tbc Park?]